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Stuttgart 21 und die Systemfrage – Die Diskussionsebene hinter dem Bahnhof

Cottbus, 07.10.2010 (BA)
Geht es bei Stuttgart 21 um die Demokratie und sogar um die Zukunftsfähigkeit des Landes? Stellt der Protest die Systemfrage? Auf nichts weniger liefen die Argumente hinaus, die bisher von Union wie FDP zu hören waren. Irgendwann müssen demokratisch erwirkte Beschlüsse auch durchgesetzt werden, sagt Bundeskanzlerin Angela Merkel. Wenn das alles stimmte, müsste man Stuttgart 21 durchprügeln.

Zum Glück kehrt inzwischen etwas Besinnung ein, selbst bei Baden-Württembergs Ministerpräsident Stefan Mappus. Die Einschaltung eines Vermittlers ist der erste Schritt zur Deeskalation. Es ist doch nur ein Bahnhof! Die Welt geht nicht unter, wenn dieser Bau nicht realisiert werden sollte. Die Demokratie hört mit einer Parlamentsentscheidung nicht auf, sondern geht mit der Demonstration danach weiter. Bei der Wiederaufbereitungsanlage im bayerischen Wackersdorf und beim Kernkraftwerk im badischen Wyhl widersetzten sich die Bauern und die lokale Bevölkerung, ehe die Berufsdemonstranten kamen. Beide Projekte scheiterten. Waren das Niederlagen der Demokratie? Nein, es waren Siege der Vernunft.

Es gibt quasi einen Grenznutzen für die Durchsetzung von Großvorhaben. Entweder der Widerstand erlahmt – dann war er nicht motiviert genug. Oder der Staat gibt nach. Dann brauchte er das Projekt nicht wirklich. Oder man findet einen Kompromiss. Dann wird meist der Größenwahnsinn der Planer auf ein realistisches Maß gestutzt.

Demokratie ist kompliziert. Aber sie bewahrt uns auch vor Fehlern. CSU-Landesgruppenchef Peter Friedrich fragt ebenso wie Merkel, ob wir mit der Dynamik von Ländern wie Indien oder China mithalten können, wenn alles blockiert wird: Bahnhöfe, Endlager, Stromtrassen für grüne Energien. China ist eine Diktatur, Indien ein Land der Rechtlosen. Da kann man leicht einen Staudamm bauen, der ganze Regionen zerstört. Wollen wir so werden?

Wir sind ein Land selbstbewusster Bürger. Deutschland wäre in seinem demokratischen Kern beschädigt, wenn es in Stuttgart einen Blutsbahnhof bekäme und in Gorleben ein Brachial-Endlager. Wahr ist freilich, dass der Widerstand immer öfter aufbrandet. Manchmal ist sein Name Sankt Florian. Manchmal Vernunft. Manchmal Angst. Egal wie, der demokratische Staat hat damit umzugehen. Alle vier Jahre wählen – das reicht nicht. Wie also die Bürger besser beteiligen und mitentscheiden lassen? Das ist die wirkliche Systemfrage, die die Demonstranten von Stuttgart über den konkreten Fall hinaus stellen.
Lausitzer Rundschau

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