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Ein Empfang wie für einen Showstar:
Ein Blitzlichtgewitter aus 24 Stroboskopen prasselt auf die lange Wagen- schlange des ICE 1 ein, als er im schnellen Schritttempo eine Grube in der kleinen, zugigen Halle am Rande des Betriebswerkes in Hamburg- Eidelstedt überfährt.
Das grelle Licht setzt aber nicht etwa das schnittige Äußere in Szene, son- dern die Laufwerke unter dem Zug. Die zwei Dutzend Kamera-Augen interes- sieren sich nur für ein Detail: Rad für Rad, Achse für Achse, Drehgestell für
Drehgestell haben sie vor ihrer Optik die Bremsbeläge, die beiderseits der Bremsscheiben angebracht sind. In einem mit Technik vollgestopften Nebenraum der Halle arbeitet das Computerprogramm auf vol-
len Touren. Während ein Monitor den Blick auf die Perspektive der Objektive unter dem Zug zulässt, wird Wagen für Wagen der Zustand eines jeden Bremsbelags geprüft und dokumentiert.
Zehn Minuten nachdem die letzte Achse des hinteren Triebkopfes über Radsensoren das Blitzlichtge- witter ausgelöst hat, spuckt der Drucker bereits das Diagnose-Ergebnis aus Bremsbelag für Brems- belag.
Ein weißes Kästchen besagt: keine Beanstandungen, ein schwarzes: Belag austauschen, ein graues: Belag kontrollieren.
Hoch empfindliche Spezialkameras, Stroboskop-Blitzlichte, Computer und
Sensoren sind bei der Bremsbelag-Diagnoseanlage kurz: BBDA 1 - zu einem ausgeklügelten opto-elektronischen System zusammengestellt worden. Dabei werden die von den Kameras erfaßten "Schüsse" von den Bremsbelägen ge-
speichert und dann einer Bildbearbeitung zugeführt. Eine Muster-Erkennungssoftware übernimmt das, was bislang das technische
Personal in Eidelstedt machen muß: Sie prüft völlig automatisch mit einem "Blick" die Dicke des Bremsbelags. Und wenn dieser an der Grenze des vorgeschriebenen Maßes angekommen ist, dann
sorgt der Computer dafür, daß er im Ausdruck das schwarze Kästchen bekommt. "Die Bremsbelagdiagnoseanlage BBDA 1 ist das Ergebnis einer Zusammenarbeit zwischen der DB und
Japan Rail East", erklärt Projektmanager Dr. Heiko Maly vom Forschungs- und Technologiezentrum in Brandenburg-Kirchmöser. "Eine im Nahverkehr Tokio eingesetzte ähnliche Anlage wurde auf die Bedürf-
nisse und Gegebenheiten des ICE-Werks in Hamburg-Eidelstedt zugeschnitten." Und Dr. Detlev Ullrich, wie Maly Werkstoff-Fachmann in Kirchmöser, ergänzt: "Die Anlage ist der Prototyp und Erprobungs-
träger für weitere Anlagen zur Bestimmung der Belagdicke. Sie werden künftig im Verbund eingesetzt und sollen die Bremsbeläge der ICE und weiterer Fahrzeuggattungen komplett überwachen."
Eine Arbeitsgemeinschaft aus einer japanischen und einer deutschen Firma haben die Anlage gebaut. Wie häufig bei solchen Innovationen, war dies kein einfacher Weg. Erst nach mehreren umfangreichen
Software-Erweiterungen, so Ullrich, konnte die sogenannte Diagnosewahrheit der Anlage - also ihre zu- verlässige Kontrollfunktion - auf über 95 Prozent gesteigert werden. Mittlerweile wurden bei rund 1.000
Zugüberfahrten in der Anlage gut und gerne eine halbe Million Beläge vermessen. Nicht nur die Rechner-Programme wurden besser:
So wurde eine spezielle Reinigungseinheit aus rotierenden Bürsten und Wischern entwickelt. Mit ihr wird bei Bedarf die Glasplatte gesäubert, unter der Kameras und Blitze installiert sind.
Wolfgang Seifried vom Projektteam berichtet: "Es ist immer wieder vorgekommen, daß von den Zügen abtropfendes Wasser - die ICE durchfahren kurz zuvor die
Waschstraße – zu Fehldiagnosen geführt hat." Außerdem werden die Scheiben be- heizt, damit sie nicht beschlagen. Ein Vierteljahr lang muß die Anlage BBDA 1 im Parallelbetrieb zum herkömmlichen
"menschlichen" Kontrollverfahren bei etwa fünf bis zehn Zugdurchfahrten pro Tag ihre präzise diagnostische Fähigkeit unter Beweis stellen, bevor sie endgüItig zugelassen wird.
Erst dann wird es möglich sein, auch in den anderen ICE-Werken entsprechende Anlagen einzubauen. Wenn sich das System bewährt, ist es exakter als das menschliche Auge. Ullrich: "Wir haben die Er-
fahrung gemacht, daß bei manueller Inspektion der Austausch häufig schon gemacht wird, bevor es not- wendig wäre." In der Masse summiert sich dann der verfrühte Bremsbelagaustausch zum Kostenfaktor. Wenn die Belag-Kontrolle im Verbund der ICE-Werke funktioniert, profitiert
nicht nur das Betriebspersonal von der vollautomatischen Überprüfung. Ziel ist es, die Züge bei jeder Wende in den Endbahnhöfen im Werk durch die BBDA fahren zu lassen. Die Diagnose-Ergebnisse werden in einer Datenbank ge-
sammelt und nach Auffälligkeiten ausgewertet. "Wir wollen eine lückenlose Überwachung der Bremsbeläge erreichen, um darauf eine zustandsbezogene Instandhaltung aufbauen zu können", erklärt Dr. Maly. So lassen sich insbe-
sondere die zeit- und kostenaufwändigen Austauschvorgänge optimieren. Außerdem hoffen die Diagnosetechniker, empirische Daten zu Lebensdauer und Verschleißrate der
Bremsbeläge für jeden Zug der ICE-Flotte zu gewinnen und dabei auch Fehlfunktionen in der Bremsan- lage frühzeitig zu erkennen. Noch gibt es keine begründbaren Erfahrungen, warum der eine Belag schneller verschleißt als der an-
dere, sagt Dr. Ullrich: "jeder Belag hat seine ganz eigene Geschichte."
Quelle: Bahntech 4/2000 |
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